Ist Bewusstseinsentwicklung elitär?

Für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen stellen wir Phasenkonzepte wie sie hier dargestellt wurden in der Regel nicht in Frage. Es erscheint uns selbstverständlich, dass Kinder sich entwickeln, dass ein dreijähriges Kind ein anderes, weniger entwickeltes Bewusstsein von unserer Welt hat als ein 10jähriges Kind.

Wir sehen es auch als selbstverständlich an, dass z.B. Integrationskinder im Vergleich zu Kindern der gleichen Altersklasse differenziert in ihrem Tempo und ihren (begrenzten) Möglichkeiten lernen sollen.

Wir halten also die Annahme qualitativer Unterschiede in den verschiedenen Phasen der individuellen Entwicklung nicht für elitär.

Anders sieht es möglicherweise in Bezug auf die Bewusstseins- und Persönlichkeitsentwicklung im Erwachsenenalter aus.

Lebenslanges Lernen ist heute ein weitgehend anerkanntes Konzept, von lebenslanger Entwicklung redet kaum jemand. So ist es auch nicht verwunderlich, dass fast alle Entwicklungsmodelle und empirischen Erhebungen spätestens mit dem Erreichen des 25. Lebensjahres, meist jedoch schon früher enden. D.h. mit der Beendigung der Schullaufbahn und mit dem Eintritt in das Berufsleben scheint der junge Erwachsene ausgereift und die persönliche Entwicklung des Erwachsenen mehr oder weniger abgeschlossen zu sein.1

Nutzen wir nun die dargestellten Modelle zur Analyse eines Ist-Standes von Bewusstseins­entwicklung bei Erwachsenen kommt schnell der Eindruck auf, dass Entwicklungen ins Stocken geraten sind bzw. hinter den Möglichkeiten in unserer Gesellschaft zurückbleiben. In diesem Licht erscheint beispielsweise die Entwicklungsphase des grünen Werte-Mems als besser und höher entwickelt als die des blauen oder roten Werte-Mems.

Eine solche Denkweise verkennt aber zwei wesentliche Aspekte holistischer Entwicklungstheorien.

Erstens bedeutet eine holistische Perspektive auf Entwicklung, dass alle Phasen wichtig und notwendig sind und in jeder Phase Denkweisen und Kompetenzen zur Reife gebracht werden, auf die innerhalb unserer Lebensspanne bei Bedarf jederzeit individuell zurückgegriffen werden kann.

Auch wenn eine Person sich hauptsächlich im Gefüge des grünen Werte-Mems bewegt, ist mitunter der Rückgriff auf Kompetenzen ‚darunterliegender‘ Werte-Meme lebens-, wenn nicht sogar überlebenswichtig.

Wilber beschreibt die Relation der unterschiedlichen Entwicklungsphasen so: die späteren Entwicklungsphasen sind qualitativ weiterentwickelt, die früheren sind grundlegender.

Er bemerkt dazu weiter: „…[J]ede Welle des Seins [auch Werte-Mem-Phasen – AdA] [ist] ein fundamentaler Bestandteil aller nachfolgenden Wellen, weshalb jede einzelne geachtet und umfangen werden sollte.

Überdies kann jede Welle selbst aktiviert oder reaktiviert werden, wenn es die Lebens­umstände verlangen. In Notsituationen können wir rote Machttriebe aktivieren, Bei der Suche nach einem neuen Job könnten wir orangefarbene Leistungsorientierung brauchen, bei der Heirat und mit Freunden enge grüne, bindende Kräfte. Alle diese Meme haben etwas Wichtiges beizutragen.

Was jedoch keines der Primärschicht-Meme aus eigener Kraft tun kann, ist, die Existenz der anderen Meme voll zu würdigen. Jedes der primärschichtigen Meme hält seine Weltanschauung für die richtige oder beste Perspektive.“ (Wilber 2010, S. 24)2.

Daher kann auf keines der Werte-Meme verzichtet werden, eine Gering­schätzung einzelner Werte-Meme ist also keinesfalls geboten.

Insbesondere geht es nicht um Kategorisierungen von Individuen in Mem-Schubladen, sondern um das Verständnis allgemeiner, gesellschaftlicher Wertvorstellungen.

Zweitens ist es wichtig, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, dass wir in allen Modellen von durchschnittlichen Zuordnungen ausgehen, das Individuum fluktuiert hauptsächlich (aber keinesfalls vollständig) in einem bestimmten Werte-Mem-Bereich. Als Analysten nehmen wir jeweils nur einen Ausschnitt in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit wahr und verproben dies in der Vorstellung eines Werte-Mems. Es gibt keine feststehenden Wahrheiten, alle Entwicklung ist immer im Fluss.

Der Fluss des Lebens

Entwicklung ist fließende Veränderung. Stellen wir uns dies tatsächlich einmal in der Metapher eines Flusses vor, so zeigt sich dieser in seiner frühen Phase an seiner Quelle als schmales Rinnsal, am Oberlauf wird er zunehmend breiter, ist vielleicht dort schon von kleinen Booten schiffbar. Im Unterlauf ist der Fluss dann schon deutlich breiter und bietet möglicherweise schon größeren Frachtschiffen Platz, und schließlich mündet der Fluss ins Meer.

Niemand käme auf die Idee, dass der Fluss an der Mündung besser oder wichtiger ist als an seinem Oberlauf, bzw. dass man auf die Quelle oder den Oberlauf ganz verzichten könnte, denn dann wäre es ja kein Fluss mehr. Ganz im Sinne einer Wachstumsholarchie fließt der Fluss von oben (Berg) nach unten (Tal und Mündung), verbreitert seine Basis, führt zunehmend mehr Wasser, wird komplexer und hat mit zunehmender Breite auch ein höheres Störungspotential durch Strömung und mögliche Überschwemmungen.

Jede Entwicklung eines Individuums wie auch einer Gesellschaft basiert immer auf Entscheidungen am „Fluss des Lebens“, der Evolution aktiv teilzunehmen, d.h. vor allem den Gedanken an allem Feststehendem und Statischem loszulassen und Neues und Unbekanntes willkommen zu heißen.3 Dies ist in der Regel kein einfacher Prozess, der häufig mit Ängsten und Schmerzen verbunden sein wird. Eine Phase in der Ich-Entwicklung stellt sich in diesem Bild als zeitweiliges Festmachen am Ufer des Flusses dar, zum Ausruhen und Innehalten, um dann, wenn die Zeit reif ist, zur nächsten Etappe aufzubrechen. Das Ziel aber bleibt immer das Meer.

1Vgl. Thomas Binder, Ich-Entwicklung für effektives Beraten, Göttingen 2019 (2016), S. 83ff

2Ken Wilber, Ganzheitlich handeln, Arbor Verlag, Freiamt 2010 (2001/2000)

3Die US-Amerikanerin und buddhistische Nonne Pema Chödrön, Ordensmutter eines tibetischen Klosters in Kanada bietet in ihren Büchern Ausführungen und Methoden, wie dieses Loslassen und Willkommen-heißen zu erlernen ist. (Pema Chödrön, Die Weisheit der Auswegslosigkeit, Freiamt 2016 (2002)

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