Wer entscheidet was?

Selbstführung in alternativen Schulen

Nach der Phase des Aufbaus und der Konsolidierung alternativer Schulgründungen stellt sich über kurz oder lang mit dem Größerwerden die Frage nach den internen Entscheidungs- und Beratungsprozessen in der weiteren Entwicklung der Organisation.
Diese Frage betrifft einige zentralen organisatorischen Bereiche wie z.B. die Kommunikationswege zwischen den Beteiligten und einen möglichst transparenten Informationsfluss.

Frederic Laloux unterscheidet in seinem Buch „Reinventing Organizations“ (München 2014) nach einer Analyse von Strukturen und Prozessen in einer Reihe evolutionärer Organisationen und Unternehmen drei wesentliche Merkmale dafür:

  • die Selbstführung der Mitwirkenden,
  • die Ganzheitlichkeit des persönlichen Wirkens innerhalb der Organisation und das
  • Verfolgen ihres evolutionären Sinns.

Das Setting einer alternativen Schule

Was bedeutet dies im Setting einer pädagogisch, alternativen Schulorganisation und für die Mitwirkenden in dieser Organisation?

Zunächst ist mit der Gründung einer Schule in der Regel (vermittelt über das besondere Schulkonzept) ein bestimmter (evolutionärer) Sinn vordefiniert. Das könnte beispielsweise eine Leitlinie wie folgt sein:
Die Schule soll einer ganzheitlichen Bildung und der umfassenden Ausprägung der Potentiale unserer Kinder in möglichst gleichwürdigen und gewaltfreien Beziehungen zwischen Schüler:innen, Pädagog:innen und Eltern dienen. Dabei sollen alternative Inhalte und offene Methoden zum Einsatz kommen.
Die stetige persönliche Entwicklung der Pädagog:innen als Verantwortliche für die Gestaltung dieser Beziehungen spielt dabei eine zentrale Rolle. Daher sollen sie sich möglichst mit ihrer ganzen Persönlichkeit in die Bildungs- und Lebensprozesse der Organisation einbringen können… usw.

Dieser möglichen Leitlinie sollen nun im Ideal alle Mitwirkungen in der Organisation folgen, neue Mitwirkende unter dieser Prämisse gefunden und eingestellt werden, Zielesetzungen und Entscheidungen dem Sinn der Organisation dienen.

Prozesse der Selbstführung

Was heißt das nun für die Prozesse der Selbstführung innerhalb der Organisation Schule?

Laloux sagt dazu: „Das Entscheidende ist, dass die Gründer und Leiter evolutionärer Organisationen akzeptieren, dass ihre Macht durch den Beratungsprozess begrenzt wird. Es spielt keine Rolle, wie sehr sie von ihrer Sichtweise überzeugt sind, sie können Entscheidungen nur dann treffen, wenn sie sich mit den Menschen beraten, die von der Entscheidung betroffen sind, oder die das entsprechende Fachwissen haben.“1

Das ist mitunter schwer genug, denn die ursprünglichen Gründer:innen und Anfangsverantwortlichen fühlen oftmals eine besondere Verbundenheit zu ihrem „Baby“ freie Schule und haben verständliche Schwierigkeiten Verantwortung abzugeben.

Die Aussage Laloux‘ beinhaltet zudem einige neuralgische Punkte: die Leitfiguren – Gründer:innen, pädagogische Leitung, Geschäftsführung, charismatische Ideengeber:innen usw. – spielen eine wichtige Vorreiter- und Vorbilder-Rolle und verzichten willentlich und bewusst auf ihre alleinigen durch die Hierarchie implementierten Entscheidungsbefugnisse. Sie haben gleichzeitig die wichtige Aufgabe, sich zurück zu nehmen und den evolutionären Prozess zu initiieren und zu begleiten, den Entfaltungsraum für diesen Prozess zu schaffen und zu halten. 2

Das heißt aber nun nicht im Umkehrschluss, dass alle Mitwirkenden in allen Dingen, die die Organisation betreffen, direkt mit entscheiden sollen, und damit ein vogelwildes Diskutieren und Argumentieren im großen Kreis (Mitgliederversammlungen, Kollegiumskonferenzen, Teamsitzungen und ähnl.) beginnt und alles unendlich im Konsens verhandelt werden soll. Denn der zweite Teil von Laloux‘ Aussage besagt ja: wesentlich sind die von den Entscheidungen direkt Betroffenen und die, die über das Fachwissen verfügen, möglichst tragfähige Entscheidungen zu treffen. Ersteres betrifft einen immer aufzusetzenden Beratungsprozess, der die einbezieht, die durch Entscheidungen betroffen sind (und nur die!) und das Zweite die Qualifikation der potentiellen Entscheider für den jeweiligen Bereich der Entscheidung. Qualifikationen können dabei sowohl vorher durch (Ausbildung und Praxis) vorhanden sein oder aber im Prozess erworben und erlernt werden.

Entscheider:innen werden in Bezug auf die ganz unterschiedlichen Entscheidungsbereiche möglicherweise auch ganz unterschiedliche Personen sein. Potentiell kann jede Mitwirkende im Unternehmen Entscheider:in sein.
In Einstellungsverfahren von Mitarbeitern beispielsweise wird es wichtig sein, dass die an den Entscheidungsprozessen Beteiligten vollständig im evolutionären Sinn der Organisation denken und handeln, entsprechende Kriterien in der Entscheidung anlegen.
Schulorganisatorische Entscheidung z.B. über die praktische Stundenverteilung oder Pausenzeiten basieren dagegen bereits auf Grundentscheidungen, die zuvor allgemeiner getroffen wurden (z.B. Zeittaktung, Unterrichtszeiten) oder einfach organisatorischen Grundbedingungen (z.B. Räume, Busverbindungen usw.).

Beratungsprozesse sollten in definierter Weise aufgesetzt werden. Dazu können einige Regeln aufgestellt werden:

  • Beratungen sollten sowohl in der Beteiligung als auch zeitlich streng begrenzt werden.
  • Diskussionsbeiträge sollten inhaltlich einmalig bleiben, eventuell wird dazu eine Diskussionswächter:in eingesetzt, die inhaltlich gleiche oder andere nur bestätigende Beiträge freundlich aber rigoros unterbindet.4
  • Die Teilnehmer:innen an der Beratung sollten selbst Diskussionsdisziplin üben, d.h. im Zweifelsfall auch den Beitrag zurückziehen, wenn Wesentliches bereits ähnlich oder genau im eigenen Sinne schon gesagt wurde. Hier ist immer die Frage zu stellen: Habe ich einen essentiellen Beitrag am Beratungsprozess mit meiner Wortmeldung zu leisten, ist mein Beitrag für die Entscheidungsfindung wirklich wesentlich?

Die wesentliche Rolle der Persönlichkeitsentwicklung

Selbstführungsprozesse in evolutionären Organisationen erfordern grundsätzlich die stetige Reflexion und Arbeit an der eigenen Persönlichkeit der Mitwirkenden. Das erfordert einen gute Kenntnis bzw. die Erarbeitung der Kenntnis der persönlichen Strukturen, Reaktionsmechanismen und Aktionsmuster, kurz der eigenen Schatten. Das betrifft auch und insbesondere grundlegende Fragestellungen wie:

  • Warum möchte ich in dieser Schule arbeiten und mitwirken?
  • Was sind meine eigenen Ziele?
  • Sind meine Ziele, mein Denken und mein Handeln in Übereinstimmung mit dem evolutionären Sinn meiner Schule?
  • Was kann ich dazu beitragen?
  • Was sind für mich NoGos?
  • Wo kann ich mich einbringen, welche Verantwortung möchte und kann ich tragen?
  • Wieviel Vertrauen habe ich in die Strukturen und Prozesse der Organisation?
  • Welche Unterstützung benötige ich für meine persönliche Entwicklung?

Persönlichkeitsentwicklung muss ein stetiger Prozesse sein bzw. werden, die auch mit geeigneten Maßnahmen innerhalb der Organisation gefördert werden sollte (Super-, Intervision, persönliches Coaching, kollegiale Beratung u.a.). Die Gefahr der Übertragung und Projektion der eigenen Mängelerlebnisse und aus der eigenen Geschichte gefüllten emotionalen „Rucksäcke“ auf die Arbeit mit den Schüler:innen und in der Zusammenarbeit mit Kolleg:innen gilt es bewusst zu machen und zu minimieren.

Erste Schritte zur selbstführenden Schule

Schritt 1: Es gilt zunächst heraus zu finden, welche Bereiche in der schulischen Organisation für welche Entscheidungskompetenzen zu unterscheiden sind und wer von den Mitwirkenden für diese Entscheidungen Verantwortung übernehmen kann bzw. möchte.

Weitere Schritte: Für die breitere Verteilung von Entscheidungsbefugnissen sind einige wesentliche Voraussetzungen zu erfüllen:3

  1. die Personen oder Gruppen müssen einen spezifischen Auftrag für ihre Befugnisse, Entscheidungen zu treffen, bekommen,
  2. sie benötigen damit das Vertrauen und die Akzeptanz der anderen Mitwirkenden, ihnen muss das Vertrauen ausgesprochen werden und dies gilt prinzipiell unbegrenzt, es sei denn, es wird (aus guten Gründen) grundsätzlich entzogen,
  3. alle Entscheidungen müssen transparent kommuniziert und immer mit den von Entscheidungen Betroffenen zuvor beraten werden,
  4. der Entwicklungsprozess der Selbstführung muss regelmäßig evaluiert werden (Effizienz, Tragfähigkeit, Wirkungen usw.)

Transparente Kommunikation erfordert nach Laloux unbedingt einen unbegrenzten Informationsfluss, d.h. alle Mitwirkenden haben bei Bedarf Zugriff auf alle Informationen in der Organisation. Es gibt keine Geheimnisse, Sonderabsprachen oder Sonstiges. Nur so kann tatsächlich Vertrauen entstehen, was wiederum Voraussetzung dafür ist, dass die Mitwirkenden bereit sein werden, sich mit ihrer ganzen Person zeigen (Merkmal der Ganzheitlichkeit), also mit ihren Stärken und auch Schwächen. Persönliche Fehler werden eingeräumt und sind hervorragend für eigene Lernprozesse geeignet und werden als solche auch allgemein angesehen. Evolutionäre Organisationen sind somit entspannte, angenehm unperfekte Organisationen, die sich ständig ganzheitlich weiterentwickeln.


Anmerkungen

1 Frederic Laloux, Reinventing Organizations, München 2014, S. 242
2 Laloux folgt hier dem integralen Konzept der Bewusstseinstufen, er nennt den Prozess der Entwicklung evolutionärer Organisationen auch die Entwicklung einer Teal-Organisation (teal = petrol, eine Farbkennung für die integrale Bewusstseinstufe, vgl. Ken Wilber/Spiral DynamicsR: gelbes wMem). Es wäre erfolgversprechend und wünschenswert, wenn der Entwicklungsprozess von Personen initiiert und begleitet wird, die diese zur Zeit entwickeltste allgemeine Bewusstseinsstufe erreicht haben und von daher agieren können.
3 Die Entwicklung evolutionärer Organisationen bedeutet eine Umkehrung der hierarchischen Entscheidungsstrukturen einer Organisation von Machthierarchien (Pyramide), die nach oben immer schmaler werden (z.B. viele Arbeiter:innen, wenige Vorarbeiter:innen, einzelne in Abteilungsleitung, ein Chef) und in denen der Fluss der Informationen von unten nach oben verläuft und Wachstumshierarchien (umgekehrte Pyramide), die für die Dezentralisierung der Entscheidungsverantwortung und ihre Verteilung auf viele Schultern, sowie einer informellen Flussbewegung zwischen diesen dezentralen Strukturen stehen. Den Leitfiguren einer Organisationen kommt dann die Aufgabe zu Entfaltungsräume für evolutionäre Abläufe zu schaffen und zu halten, Verbindungsstrukturen zu verantworten und immer wieder die Übereinstimmung mit dem evolutionären Sinn der Organisation zu evaluieren.
4 Im Gegensatz zu der Aussage frei nach Karl Valentin: „Es ist alles Wesentliche gesagt, nur noch nicht von allen!“

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