Die Not mit den Noten

Ein Lehrerkollege sagte mir vor einiger Zeit: „Schüler brauchen Noten, sie wollen sich ja auch selbst miteinander messen!“ – Betrachten wir diese Aussage einmal vorurteilsfrei. Der wahre Teil dieser Aussage ist, dass sich Schüler*innen tatsächlich miteinander vergleichen und auch messen (wollen), das gehört ja notwendig zur Selbstfindung der eigenen Position in dieser Welt dazu. Kooperation und Rivalität müssen dabei einen guten Ausgleich finden (insbesondere Jungen und Männer als Gruppenwesen haben hier eine anspruchsvolle Aufgabe, vgl. V. F. Birkenbihl, Jungen und Mädchen: wie sie lernen lernen, München 2001, S. 50ff).

Aber brauchen sie dazu zwingend Noten? Notengebung ist ja eine aktive Handlung der Lehrer*innen und Vorschrift der Bildungsbehörde, die zumeist ungefragt und zwanghaft erfolgt, also im allgemeineren Verständnis gewaltsam. Die Schüler*innen haben ja in der heutigen Schule in der Regel nicht die Wahl, ob sie in dieser Weise ohne Aufforderung ihrerseits bewertet werden wollen. Wie es ihnen damit geht, kann man ja heute schon an den stressbedingten Erkrankungen in fühesten Kindesalter ablesen. Glückliches Lernen sieht anders aus.

Darüber hinaus stellen Noten ein sehr grobes Raster dar, in dem oft genug die Kriterien zu allgemein und schwammig bleiben bzw. gar nicht offengelegt werden. Dabei sind sie umgeben vom Mäntelchen der Schein-Objektivität. Bei Noten geht es offensichtlich um soziales Aussortieren, wobei Herkunft und damit Bildungschancen nach wie vor eine entscheidende Rolle spielen.

Schule hätte ja die Möglichkeit hier für einen gewissen Ausgleich zu sorgen, wäre sie nicht durch Lehrplanfestlegung, Fachorientierung und Notensystematik der verlängerte Arm und ausführendes Organ dieser gesellschaftlichen Einordnung, ginge es im Schulbetrieb tatsächlich um die weitestmögliche Entfaltung von Potentialen der Kinder und um die Kompetenzen und Fähigkeiten, die Qualitäten, die sie dringend in ihrer Zukunft brauchen werden. Dabei trifft diese Statik einer Industriegesellschaft eigentlich gar nicht mehr auf die flexibilisierte Lebenspraxis der meisten Menschen in der sich heute bereits entwickelten Informationsgesellschaft und schon gar nicht mehr auf die aufkommende globalisierte und digitalisierte Gesellschaft zu.

Manchmal fragen Schüler*innen auch selbst nach Noten, aber würden sie das auch tun, wenn es gar kein Notensystem gäbe, und wenn sie trotzdem gute eigene, von den Lehrer*innen unterstützte Möglichkeiten einer Selbsteinschätzung hätten, wenn sie also schon frühzeitig lernen würden, sich über ihre Leistungsfähigkeit selbst ein realistisches Bild zu machen, ohne über einen willkürlichen äußeren Maßstab abqualifiziert zu werden. Leistungen auch bemessen nach Ausgangssituation, Willen, Engagement und Begeisterung. Und wenn dabei alle Interessen und Lernbereiche der Heranwachsenden berücksichtigt und wertschätzend behandelt würden. Und zwar nicht nur in den Lernbereichen, die Lehrer und Bildungspolitiker vorgeben (also nicht nur hautpsächlich kognitive Fähigkeiten und fachliches Wissen), sondern in allen Bereichen, in denen sie ihre persönlichen Potentiale entfalten.

„Ja, aber die Wirtschaft braucht doch Maßstäbe wie Zeugnisse, wenn die Heranwachsenden in den Arbeitsmarkt eintreten.“ Stimmt vielleicht, die Frage ist aber, wie aussagekräftig sind denn Zeugnisse und Fachnoten für die Einschätzung durch den potentiellen Arbeitgeber? Welche Informationen in welcher Qualität werden denn hier benötigt?

Wie wäre es denn, wenn statt eines Zeugnisses die Schüler*in ein „Meisterstück“ (einen Gegenstand, einen Text usw.) aus einem selbstgewählten und eigenständig, unter Betreuung von Lehrer*innen, erarbeiteten Projekt, an dem sie/er ein ganzes Abschlussjahr arbeiten konnte und das viele Aspekte ihres/seines Potential aufzeigen kann, vorlegen würde? Neben dem Benefit für den potentiellen Arbeitgeber, wäre ein Nebenprodukt einer solchen Arbeit, für die Schüler*in vermutlich, dass sie/er am Ende weiß, wofür sie brennt, wo ihre Stärken und Schwächen, um dann im Arbeitsleben wirklich das zu machen, was ihr/ihm Freude bereitet.


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